Kurzgeschichten


Grauzone / Apokalypse (aus dem Jahr 2018)

Die Kerze flackert im Rhythmus zu den Detonationen, die Windzüge durch mein geöffnetes Dachfenster hervorrufen, während sich meine Nackenhaare mit dem urmenschlichen Instinkt „Flucht“ aufstellen. Alle anderen sind nun in den Bunkern, aber da ich in Kellern Klaustrophobie bekomme, sitze ich jetzt alleine hier oben mit dem sehnlichen Wunsch zu schreiben. Der Bildschirm meines Computers ist schwarz, denn der Strom ist überall ausgefallen. Daher sitze ich vor dem leeren Blatt den Füllhalter mit Tinte vollgesogen und warte auf den ersten Satz. Ein Wort fällt mir ein, aber es ist unpassend, daher würde ich jetzt gerne google bemühen und nach einem Synonym suchen, denn das Wörterbuch heraus zu suchen aus meinem Bücherregal, das Tausende Bücher beherbergt, ist unverhältnismäßig zu dem Zeitaufwand für ein einziges Wort. Leider ist auch der Akku meines Handys schon leer. Daher stehe ich nun doch auf und begebe mich auf die Suche nach dem Wörterbuch für Synonyme. Der Rücken des Buchs ist blau, das weiß ich noch, also suche ich nach allem, was blau ist mit der Kerze in der Hand, die das Licht unheimlich über meine Regalleichen huschen lässt. Ich ziehe den Band heraus und finde das Wort. 10 Synonyme stehen da für erzeugen: erschaffen, schaffen, entstehen lassen, hervorbringen, hervorrufen, erzeugen, ins Leben rufen, in die Welt setzen, schöpfen, kreieren, entwickeln… Ich entscheide mich für „hervorrufen“ und füge das Wort im Geiste in meinen ersten Satz ein. Der Satz reift langsam in meinem Hirn, aber dann habe ich ihn plötzlich griffig parat und schreibe: Die Kerze flackert im Rhythmus zu den Detonationen, die Windzüge durch mein geöffnetes Dachfenster hervorrufen,…..

Der erste Satz ist geschrieben und von da an fällt es mir leicht weiter zu schreiben. Meine Anti-Heldin sitzt in den Startlöchern meines Hirns, schon einigermaßen durchkomponiert, so dass ich jetzt flüssig mit dem Anfang beginnen und ein Bild von ihr zeichnen kann.

Nun habe ich das Anfangskapitel geschafft und werde müde. Es ist schon nach Mitternacht. Mein Glas ist leer und so auch mein Kopf. Deshalb lege ich mich angezogen auf das Bett neben meinem Schreibtisch. In diesen Zeiten muss man sich in Alarmbereitschaft begeben, denn plötzlich könnten sie kommen, um mich zu holen. Da will ich nicht im Schlafanzug sein.

Nachts habe ich einen Alptraum. Ich bin in Kairo. Jemand wirft Bomben. Alles ist feuerrot. Plötzlich rutscht Jemand, der neben mir steht, einen steilen Abhang herab und prallt 100 Meter weiter unten auf Beton.

Der Morgen ist nicht grau und neblig, wie er im Winter sein müsste, nein, er ist feuerrot von den Explosionen. Verkatert stehe ich auf, quäle mich ins Bad, wo ich eiskaltes Wasser in mein Gesicht werfe, kurz die Achseln wasche, um zu meinem Schreibtisch zurückzukehren, wo mein Manuskript wartet. Schmerzlich vermisse ich meinen Kaffee. Wenn ich wenigstens einen Gasbrenner hätte, aber da steht in der Küchennische nur der jetzt unbrauchbar gewordene Elektroherd. Ich zünde mir eine Zigarette an. Noch habe ich ein paar auf Vorrat, leider werden sie auch bald zur Neige gehen. Dann habe ich gar nichts mehr, was mich beim Schreiben puscht. Ich lese noch einmal den Aufschrieb von gestern durch, korrigiere hier und da, bis ich bereit zum Weiterschreiben bin. Niemand spricht mit mir, nur meine eigenen Worte.

Ich sehe von meinem Manuskript auf wie um Luft zu holen und richte meinen Blick aus dem Fenster nach draußen. Die schwarz verbrannten Bäume in meinem Garten erheben sich wie Gespenster aus den Nebelschwaden, die gerade beginnen sich aufzulösen. Die Ruine des Hauses meiner Nachbarn ruht friedlich begraben unter einer Ascheschicht an eine Grabstätte wie Pompeji erinnernd. Was hatten sie bloß angerichtet und wann würden sie kommen, um mich zu holen? Ich kann mich nicht auf den Fortgang meiner Geschichte konzentrieren und schreibe stattdessen eine kleine Lockerungsübung nur für mich selbst, aber was wäre, wenn sie diese Übung finden würden? Sie würden mich auslöschen. Da bin ich mir sicher…

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Heute habe ich das Manuskript nach Beendigung noch dreimal abgeschrieben und es in die Post an drei bekannte Literaturkritiker gegeben mit dem ersten Satz im Anschreiben, ich hoffe, dass Sie in diesem schrecklichen Krieg nicht getötet wurden, mit der Hoffnung, dass mein Manuskript nicht einfach so als Furz in der Luft verpufft. Nicht auszumalen, Sie wären ausradiert, zu Tode gekommen in diesem Krieg.

Nun muss ich warten. Da mir langweilig ist, beginne ich nun endlich, die Ratten zu dressieren. Ich zwinge sie, Männchen zu machen, während ich ihnen ein Stück Käse vor das Maul halte.

Immer wieder schaue ich nach draußen. Der Himmel qualmt immer noch von Explosionen. Ich wundere mich, warum mein Haus noch steht und mich noch niemand von denen abgeholt hat. Schließlich ist dieses Anti-Kriegs-Manuskript nicht ohne.

Eines Morgens finde ich nichts brauchbares zu essen mehr und ich überlege mir, was ich gegen meinen knurrenden Magen tun könnte. Da kommt mir die Idee, ich könnte eine der Ratten, die jetzt immer ganz zutraulich zu mir kommen, fangen und essen. Kochen oder Braten geht ja leider nicht, ich müsste sie roh essen wie die ein Neandertaler. Also los, fang dir eine, sage ich zu mir im Geiste. Die erste macht vor meinen Füßen schon Männchen in Erwartung eines Stück Käse. Ich greife sie auf, halte sie an meinen Mund und beiße wie ein hungriger Löwe in ihren Nacken. Sie quiekt laut auf, aus meinem Mund tropft Blut. Während ich immer weiter mit meinen Zähnen Stücke aus ihr herausreisse, denke ich daran, dass ich nun zwar eine Ratte fresse, aber wenigstens keinen Mensch.

Ungefähr eine Wochen später gegen zwei Uhr Nachts reissen sie mich aus dem Schlaf mit einem Poltern an der Tür. Wie immer schlafe ich in meinen Klamotten, die mittlerweile bestialisch stinken, denn wie soll ich sie auch waschen ohne Waschmaschine und warmes Wasser? Ich stehe nicht auf, krümme mich unter der Bettdecke gegen die Wand. Vielleicht entdecken sie mich nicht. Die Tür kracht dann in meinen kleinen Dachraum. Jetzt sind sie da, diesmal sind es nicht die Ratten. Ich drehe mich nicht um. Ich will sie nicht sehen mit ihren schwarzen Masken. Stattdessen nimmt mich jemand an der Schulter von hinten, wälzt mich auf die andere Seite und ich schaue in ein gütiges Gesicht mit einer randlosen Brille, eine Frau. Eine Frau! Das stelle sich einer mal vor! Sie trägt einen weißen Kittel, knallrote Haare umrahmen ihr Gesicht. Das muss Inka sein, meine Romanfigur.

Sie sagt zu mir: „Glauben Sie tatsächlich, dass Krieg ist?“

Ich habe seit Monaten nicht mehr gesprochen und jetzt weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Wie soll ich jetzt reden? Habe ich überhaupt noch eine Stimme?

Ich setze an und presse ein „Ja“ heraus.

„Wollen Sie mit uns kommen an einen sicheren Ort? Sie erhalten gute Nahrung, Zigaretten und ein anständiges Dach über dem Kopf. Merken Sie nicht, dass hier alles feucht ist? Es tropft durch das Dach.“

„Ja“ presse ich heraus, ist das die Rettung? Sie bringen mich weg aus dem Krisengebiet.

Und dann verfrachten sie mich in einen Rettungswagen und mit lautem Tatütatü geht es ab. Ab da erinnere ich mich nicht mehr.

Zug (ältere Kurzgeschichte von mir)

Berit drückte ihre Nase platt an der Scheibe, während ihre Mutter wild gestikulierend auf dem Bahnsteig auf und ab lief. Die Scheibe um die Nase herum war schon beschlagen. Der Waggon dampfte von den nassen Leibern, die sich darin befanden. Hektisch verstauten die Passagiere ihre Gepäckstücke in den oberen Netzen. Aber Berit hatte nur Augen für ihre Mutter. Nun verlangte sie mit anschaulichen Handbewegungen, dass sie das Fenster öffnen solle. Berit nahm die Griffe in die Hand, wie die Mutter in Gesten erklärt hatte. Sie stemmte sie mit einem nach Ruck nach unten. Nichts. Das Fenster war so fest zu, wie zuvor. Der Zug begann zu schnauben und zu zischen. Dann rollte er langsam aus dem Bahnhof. Die Mutter rannte neben dem fahrenden Zug her. Ja, sie war noch bei ihr. Würde sie noch hineinspringen und sich neben sie setzen? Berit beobachtete, wie die Mutter immer kleiner wurde.

Als sie schließlich nicht mehr zu sehen war, setzte sich Berit zitternd in den ausladenden Sitz. Ihr kleiner Körper wurde geschüttelt von dem Gefühl, nun allein zu sein. Das erste Mal in ihrem 13-jährigen Leben war sie auf sich gestellt für eine Stunde zwischen Mutter und Vater. Sie versuchte sich, die Ankunft bei dem Vater vorzustellen. Aber da lag doch noch eine ganze Stunde dazwischen. Sie verfluchte ihre Mutter für die Idee, sie alleine auf diese Reise geschickt zu haben.

Mit langsamen gedankenverlorenen Bewegungen, begann sie in ihrer Tasche zu kramen. Die Coladose. Irgendwo musste sie sein. Ihre Mutter hatte sie doch am Bahnhof als Trostpflaster für sie gekauft. Schließlich hatte sie die Dose in den Händen. Ihre klammen Finger umfingen das eiskalte Getränk. Würde der Verschluß ungeöffnet abreissen? Sie schaffte es tatsächlich, die Dose zu öffnen. Mit einem Puff kam ihr der sprudelnde Coladuft entgegen. Sie nahm einen Schluck. Dann barg sie die kalte Dose wohlgeborgen zwischen ihren Schenkeln.

Das erste Mal seit dem Auslaufen aus dem Bahnhof, nahm sie die Dame wahr, die ihr gegenüber saß. Sie schaute belustigt auf die wacklige Coladose zwischen ihren Schenkeln. Ihre Augen waren rege wach in einem schillernden blau. Der Hut hing für Berits Augen etwas zu keck in dem graumellierten Haar. Dafür mußte sie zugeben, daß das dunkelblaue Kostüm perfekt saß. Genau so hatte Berit sich immer ihre Mutter vorgestellt. Ihre Mutter dagegen verblasste bei dieser Erscheinung. Die etwas dickliche Statur und das strähnige Haar ließen keinerlei Eleganz vermuten. Berit begann, an ihren Zöpfen zu ziehen. Immer drängte ihr die Mutter die verhassten Zöpfe auf. Sie hatte schon den ersten Gummi in der Hand. Der Zopf würde sich auflösen. Was würde der Vater sagen? Er würde sie auch mit wildem Kopf begrüßen. Sie nahm den zweiten Gummi. Dann schüttelte sie ihr Haar. Die Dame lachte sie herzlich an. Dann, nach einer wohlüberlegten Geste, sagte sie: „So gefällst du mir schon besser!“ Berit tat so, als ob sie es nicht gehört hätte und trat ans Fenster. Eine Schneelandschaft zog an ihr vorüber. Die Bäume wirkten wie bestäubte Riesenzwerge und grinsten ihr durch das Fenster zu. Schließlich wandte sie sich etwas steif der Dame zu und sagte. „Wissen Sie, meine Mutter würde es gar nicht mögen.“ „Und? Wenn ich es mag?“ „Dann ist es gut.“

Berit setzte sich wieder und nahm wieder die etwas wärmer gewordene Coladose zwischen die Schenkel, nachdem sie einen Schluck daraus genommen hatte. Dann versank sie in Verehrung für die Dame. Sie beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie sie mit einem sehnsüchtigen Blick in die Schneelandschaft schaute. Plötzlich spürte Berit es. Ein warmer Strahl floss aus ihren Schenkeln. Als ob der Zug, in dem sie sich befand, aus ihr herauslief. Die Coladose erwärmte sich merklich. Erschreckt stand Berit auf, entschuldigte sich bei der Dame, dass sie auf die Toilette müsse und floh in Richtung Klo. Die leuchtende Anzeige zeigte „Besetzt“ an. Sie stand im Gang und betete. Bitte kein weiterer Stoß. Aber vergeblich. Es floss aus ihr heraus wie ein wilder Strom. Schließlich verließ ein Männchen mit einem Gesicht, das dem eines Bullterriers glich, das Klo. Berit riß ihm fast die Tür aus der Hand. Sie schloss die Tür hinter sich und begann, sich hastig auszuziehen. Die verhassten Strumpfhosen klebten. Aber an was? Die Strumpfhose zeriss. Das Herz klopfte bis zum Anschlag. Und dann die Offenbarung. Sie würde sterben. Sie blutete aus dem Unterleib. Schon einen Tag zuvor hatte sie in der Unterhose einen braunen Fleck bemerkt. Aber, dass sie nun blutete, hinterließ sie fassungslos. Wild begann sie, das Klopapier in ihre Unterhose als Puffer zu stopfen. Nachdem sie alles sicher verstaut hatte, kehrte sie zurück zu der Dame. Sie erwartete sie schon mit ihren hellen Augen.

Berit setzte sich und fragte dann nach einer Weile: „Haben Sie schon einmal über den Tod nachgedacht? Dass sie so richtig sterben müssten?“ „Warum denkst du an den Tod in deinem Alter?“ „Ich weiß es nicht. Es kam mit nur eben so.“ Sie versuchte, ihre Verzweiflung über weitere Ströme zu verbergen, indem sie an ihrer Coladose nuckelte. Das schlimmste war, dass sie, wenn sie aufstand, einen hässlichen Blutfleck auf dem Sitz hinterlassen würde. Sie konnte nur hoffen, dass die Dame mit ihr an der gleichen Station aussteigen würde.

Berit schaute aus dem Fenster. Die ersten Vorboten der Großstadt zeigten sich schon. Langweilige graue Industriefassaden reihten sich aneinander. Der Fluss aus ihrem Leib wollte kein Ende nehmen. Erleichtert nahm sie wahr, daß die Dame begann, ihre Habseligkeiten zusammenzusammeln. Unhörbar seufzte Berit innerlich auf. Sie würde also aussteigen. Als die Dame fertig gepackt hatte, stand sie auf, packte ihren Koffer und ihre Handtasche und verabschiedete sich mit einem „Auf Wiedersehen, mein Kind. Und denke nicht an den Tod. Du bist noch zu jung dafür.“ Berit war in der Zwischenzeit mit sich überein gekommen, daß sie demnächst im Himmel sein würde und zog nur eine schiefe Grimasse, als die Worte aus dem Mund der Dame tönten.

Der Zug lief in den Bahnhof ein. Sie sah den Vater schon am Bahnhof stehen. Wie immer war er gut gekleidet. Ja, es war fast so, als ob er heute für sie den besten Anzug aus den Untiefen seines Kleiderschranks geborgen hätte. Sein silbernes Haar war nich zu übersehen in dem Gewusel der Wartenden. Innerlich begann Berit zu jubeln. Mein Papa. Wie stolz sie auf ihn war. Wie sollte sie ihm bloß beibringen, daß sie bald sterben würde?

Eine blasse Berit mit ungeordnetem Haar entstieg dem Zug. Der Vater stürzte auf sie zu und murmelte, nachdem er sie umfangen hatte: „Aber Kindchen! Was ist los? Du bist ja völlig durcheinander!“ „Mein lieber Papa“, flüsterte sie, „ich hätte es dir gern erspart. Aber ich muss es dir gestehen.“ Sie wand sich. Wurde abwechselnd rot und bleich. Sie sah noch einmal den schiefen Hut der Dame. Bestimmt war es so, dachte Berit. Sie bedeutete den Tod. Schließlich stieß sie stammelnd hervor: „Ich habe meine Coladose im Zug vergessen.“



Der falsche Mann

Meine nackten Zehen krallen sich auf den Betonboden. Ich sehe sie nicht. Mein Bauch versperrt den Blick. Weit unten eine Polizeisirene. Menschen laufen auf, aber nicht wegen mir. Ich will das jetzt nicht! Trotzdem streicheln die Hände meinen Bauch. Es ist mein. Obwohl von dem Falschen. Aber wohin mit dem falschen Kind? Der Beton kratzt. Plötzlich eine Beule im Bauch. Es bewegt sich, da ich ruhig stehe. Ich summe „Hänschen klein“. Jetzt sollte es kommen. Ich könnte es Jemandem hinterlassen. Hier auf dem Beton in meine Bluse eingewickelt. Sie flattert jetzt, da Wind aufgekommen ist. Ja, fast zerrt sie an meinem Leib. Jetzt fliegen! Ich breite meine Arme aus. Der Sprung. Ich traue mich noch nicht. Ein Schritt zurück. Die Fersen kratzen über den Boden. Ich spüre nichts dort, aber den Schlag ins Gesicht, den fühle ich noch. Von der Hand des Vaters. Direkt ins Gesicht. Und dann der Tritt in den schwangeren Bauch. „Ich will deine blöde Göre nicht!“ Wie sich das Kind gegen den Tritt gewehrt hat! Unverwüstlich. Jetzt schon ein Überlebenskünstler. Ich kann es nicht töten! Aber wie überleben? Ohne Geld? Der Vater arbeitslos. Alkoholiker! Als er einmal besoffen war, bin ich geflüchtet in die Eckkneipe. Dort stand der Andere an der Bar. Ich im dritten Monat schwanger. Er konnte das Kind nicht erahnen. Er hat mich in ein Gespräch verwickelt und immer wieder diese Blicke auf mich abgesendet. Wie ein Jäger auf der Fährte. Wir hatten vier Nächte bis ich im vierten Monat war. Immer unterbrach er den Höhepunkt und kam außerhalb von meinem Loch. Ich fragte, als ich mit meinem Kopf auf seiner Brust lag:
„Wie viele Kinder hast du schon verloren?“
„Keins, nur mich!“
In jener Nacht stand ich einfach auf und ging. Mein Herz hängte ich an eine Garderobe in einem beliebigen Bordell und wankte heim zu dem Schläger. Ich reagierte auf keine Anrufe mehr von dem süßen Charmeur. Er verschenkte wahrscheinlich sein Herz an eine andere hübsche Blondine. Als er aufgehört hatte anzurufen, fühlte ich in meinem Bauch einen Hohlraum, obwohl dort das Kind war.

Jetzt stehe ich hier und will fliegen. Das einzige und letzte Mal in meinem Leben. Daheim sitzt der Schläger besoffen vor dem Fernseher. Ich habe ihm nicht gesagt, wohin ich gehe. Nicht einmal einen Brief habe ich hinterlassen. Er will ja das Kind nicht. Also ist es meines und ich kann über es bestimmen. Ich trete einen Schritt vor und schaue hinab. Jetzt, ja jetzt bin ich soweit! Ich flüstere zu meinem Bauch: „Bist du bereit für den Flug, Liebes?“ Als Antwort kommt ein Tritt gegen die Bauchwand. Ich beuge mich nach vorne und falle. Wie viele Sekunden? Drei? Vier? Der Charmeur. Der Richtige. Auch als Vater. Unser Leben, bunt, auf der Überholspur! Mein Herz. Vergessen im Bordell. Jetzt, da ist es wieder. Näher kommt der Grund. Immer näher! Geliebt hat er mich und ich ihn! Warum? Warum, nicht er, der Vater. Für mein Kind. Er wäre es gewesen. Aber jetzt, jetzt ist es zu spät…



Durchfall

Ihr Mund war geschwollen vom vielen Reden. Sie hatte über Durchfallkrankheiten im Süden gesprochen. Ihre teigigen Finger stopften sich demonstrativ ein weiteres Stück Weißbrot in den Mund, während sie erklärte, daß dies das einzige Mittel sei, um den Durchfall zu bekämpfen. Die Tochter starrte sie an, erstaunt darüber, wieviel ein Mensch reden kann, selbst in einem zerbrechlichen Glasgehäuse sitzend, darauf wartend, daß jemand einen Stein werfe, um das Gebäude zusammenstürzen zu lassen.

Die Mutter sandte folgende Worte an die Tochter: „Und was sagst du dazu? Du bist doch auch durchfallgeplagt.“ Geziert legte die Tochter angesichts der Frage, die ihren feindlichen Boden betrat, die Gabel zur Seite und antwortete tonlos: „Mutter, das ist kein öffentliches Gesprächsthema für mich.“ „Na gut, dann eben nicht.“ antwortete die Mutter gereizt. Sie wandte sich wieder an ihr Publikum. Ein kleiner feister Mann stand halb zugewendet, schon bereit zum Gehen neben ihr. Ihr Mann und ihr Enkel saßen mit wortlosen Gesichtern am Tisch. Zu dem halb abgewandten Mann sagte sie mit einer betonten Bewegung des Rückens zu ihm hin, um ihn weiterhin in ihren Gesprächskreis zu ziehen: „Wissen Sie was? Neulich mußte ich so laut lachen, daß ich mir dabei fast in die Hosen geschissen hätte.“ Der Mann lächelte kurz, weil dieser Satz ja fast eine Aufforderung darstellte, daß er nun zu lachen habe und antwortete dünn: „Nein, so was.“ Der Erwiderung kaum Beachtung schenkend fuhr die Mutter fort. „Und das Schlimme war…“ nun mußte sie an sich halten, um nicht in lauthals lachendem Glucksen zu enden, „daß ich es wirklich getan habe.“ Unwillkürlich trat der Herr einen Schritt nach hinten und antwortete fassungslos: „Dann haben Sie also tatsächlich?“

Tränen vor Lachen rollten nun ihre Wangen herab und sie konnte nur immer wieder lauthals bestätigen: „Ja, aber das war der Durchfall.“ Ihr Blick streifte die Tochter, die immer noch in ihr Glashaus versunken unbeteiligt dem Geschehen nicht zu folgen schien. Auf die Gesichter des Ehemannes und des Enkels hatte sich ein Grinsen gelegt, was sie mit Wohlwollen quittierte. Sie wandte sich abermals an die Tochter. „Lustig nicht?“ Die Mutter hatte den zweiten Stein geworfen. Das Gebäude wankte, versuchte sich zu retten, indem es zuerst eine abwertende Geste tätigte, stürzte dann aber zusammen, stand auf und spukte der Mutter direkt ins Gesicht. Tonlos ließ die Mutter die Tochter gehen. Mit offenem Mund, so als ob sie anheben wollte, etwas zu sagen, starrte sie ihr hinterher. Aber sie sagte nichts mehr.



Das Singen der Schmeißfliege

Das Blut der Blüten auf den Kakteen drängte sich penetrant in ihren Röntgenblick. Sie dachte, diese kleinen bauchigen Stachelgeister würden gleich wie ein Vulkan Lava zu spucken beginnen. Der Blick wanderte nach links. Rote Flagge. Sturmwarnung. Er lief rechts neben ihr mit schweren Schritten auf den Boden schauend. Sie versuchte, ihm in die Augen zu sehen. Er bemerkte es und hob den Kopf, um ihren Blick zu erwidern. Erstaunt bemerkte sie, dass sich an seinem linken Auge Eiter sammelte. Was musste er noch alles bekommen? Zuerst der Prostata Krebs, der seit zwei Monaten Metastasen in seinem Körper streute und nun auch noch dieser Eiter in den Augen. Er kam ihr plötzlich uralt vor. Sie wandte sich ab, um zu husten. Als der Hustenanfall vorüber war, zündete sie sich eine Zigarette an, was einen erneuten Hustenanfall auslöste. Diese blöde Bronchitis. Aber sie würde sie hier auf den Kanaren ausheilen und könnte bei der Heimkehr wieder mehr Engagements an den Opernhäusern annehmen. Wieviele Angebote sie in der letzten Zeit doch bekommen hatte. Sie würden sie reich machen. Geld zu verdienen, mit dem was Spaß machte… gab es etwas schöneres? Aber ihr Atem ging kurz, an eine Heilung war im Augenblick nicht zu denken. Sie hatte spät mit ihrer Karriere als Sängerin begonnen. Auslöser war eine plötzliche Synästhesie durch einen LSD-Rausch. Als ob dieser Rausch nicht mehr enden wollte, denn die Musik, die sie abends hörte, hatte Farben bekommen. So war Es-Dur kirschrot und B-Moll lilablassblau. Dur-Töne schmeckten nach Puderzucker und Moll-Töne nach schwerem Rotwein. Das beste aber war, sie konnte nun diese ganzen Töne selber in der schönsten Vogelstimme singen, was sie jubilieren ließ, denn sie hatte es sich Zeit ihres Lebens immer gewünscht, so singen zu können. Dies war alles mit dem Einbruch der Wechseljahre geschehen. Es störte sie nun auch überhaupt nicht mehr, dass das Sexualleben aufgrund seiner Prostata Operation im Grab versunken war. Sie war erfüllt wie noch nie, wenn sie nur ihre Stimme auf der Bühne erheben konnte und ihr die ganzen Zuschauer bei ihren Auftritten zu Füßen lagen.

Sie wurde aus ihren Gedanken zurück in den Moment gerissen, als er brummte, sie seien jetzt da. Und ja, da war die Strandbar. Sie setzten sich an einen freien Tisch und während sie auf den Ober warteten, weitete sich ihr Blick in die wütenden Wellen, die mit ihren gefrässigen weißen Schaumkronen den Lavasand ausmerzten. Durch die dunkle Wolkenkette ergoß sich ein einziger Strahl, der dort punktuell das Meer wie Juwelen glitzern ließ, ähnlich wie es schon Caravaggio gemalt hatte. Dieses Strahlen war heute hier nur für sie da, dachte sie genüsslich, während sie versuchte, eine Schmeissfliege auf ihrem Fuß zu verjagen, indem sie das Bein hin- und her schüttelte, aber die Fliege klebte wie Kleister auf ihrer Haut. Sie schimmerte changierend zwischen Gelb und Grün. C-Dur. Im Augenwinkel sah sie, wie sein Arm zappelte. Auch dort saß eines dieser widerwärtigen Insekten. Und nachdem sie die Bestellung aufgegeben hatten und warteten, flogen immer mehr Fliegen wie Kamikazejäger herbei. Er meinte, so könne man ja nicht essen und stand auf. Sie hob ihren Arm und drückte ihn sacht wieder in den Stuhl mit den Worten, sie hätten doch schon bestellt. Aber wie erwartet machte das servierte Essen die Plage noch schlimmer. Fast hätte sie sich an einer Schmeißfliege verschluckt, was einen erneuten Hustenanfall veranlasste. Sie würgte, hustete und plötzlich fühlte sie das nach Eisen schmeckende Blut im Mund. Sie spuckte es auf ein Salatblatt und dort lag es rötlich schimmernd wie ein Blutegel. Ihr summte es im Kopf. Eine ganze Tonleiter spukte durch ihr Hirn und dann begann sie zu singen, so laut, dass sich die Leute nach ihr umdrehten. Er schaute sie wutschnaubend an, denn es war ihm peinlich. Außerdem wusste sie, er war eifersüchtig, hatte er doch in seinem ganzen Leben noch nie eine einzige kreative Leistung vollbracht. Nun in Rente seiner letzten Lebensaufgabe als kleiner Grundschullehrer an einer Dorfschule beraubt. Er gönnte ihr den Erfolg nicht. Das alles lag nun in seinem Blick. Energisch stand er auf, um zahlen zu gehen, doch sie sang weiter und immer weiter, als ob sie ihm an den Kopf werfen wollte, welch ein Versager er doch war.

Spät nachts auf dem Balkon des Hotelzimmers beobachtete sie den Vollmond, der schwer wie eine gärende Mülltonne vom Himmel zu fallen schien, während sein lautes Schnarchen durch die geöffnete Balkontür donnerte. Sollte er doch sterben. Endlich würde sie alleine zurecht kommen, wenn nicht sogar darüber hinaus. Im Geiste zählte sie die Gagen der ihr angebotenen Engagements zusammen. Pah, diese Bronchitis würde wieder vergehen. Vielleicht war es ja auch nur ein harmloser Heuschnupfen. Bei diesem Gedanken spürte sie ein Kitzeln auf dem Arm. Wieder eine dieser Schmeißfliegen. Widerwärtig. Ein erneuter Hustenanfall schüttelte sie. Diesmal landete der Blutpfropf auf dem Kopf der Papageienpflanzenblüte, die daraufhin höhnisch zu wippen begann. Das Schnarchen von drinnen hatte aufgehört. Sie nahm noch einen letzten Schluck von dem nach Kork schmeckenden Rotwein, um danach ins Bett zu gehen. Als sie sich neben ihn legte, kam kaum ein Laut von ihm. Sie löschte das Licht.

Am nächsten Morgen kitzelten sie die Sonnenstrahlen in der Nase, was sie mit einem lauten Schnauben niesen ließ. Er rührte sich nicht. Sie richtete sich auf und sah auf seine Augen. Dort labten sich fünf Schmeißfliegen an dem Eiter in seinen Höhlen. Sie stieß ihn mit dem Ellbogen in die Rippen. Nichts. Er atmete nicht mehr. Auf seiner Seebestattung im Atlantik schmetterte sie für die nicht vorhandenen Gäste das Ave Maria. Der Bootsführer wunderte sich, was man an seiner fragenden Mimik sah, aber er sagte nichts. Er schaute nur den Blüten, die in der See wogten, hinterher. Vielleicht hielt er sie ja für verrückt?

Sie blieb noch drei weitere Wochen auf den Kanaren und betrachtete schöne Männerkörper am Strand, fühlte aber nichts dabei. Gefühle überwältigten sie nur, wenn sie sang. Nach drei Wochen war die Bronchitis ausgeheilt. Vor dem Abflugtag telefonierte sie mit ihrer Agentin, um die Engagements zu bestätigen. Als sie zurück in Deutschland war, ging sie in ein Zoogeschäft und kaufte sich als Ersatz für ihn eine Nacktkatze.

Champagnerregen

Seit Oktober 2017 habe ich vier Beine und vier Füße. Jetzt schreiben wir Mitte Mai 2018. Ich habe Blut im Mund. Der Champagner ist den weißen Orchideen gewichen. Mein Psychotherapeut sagt, mein linkes Bein ist kürzer als das rechte. Abends zücke ich die Elektroden und klebe sie mir für eine halbe Stunde auf den linken Fuß, der mit Ödemen überpflastert ist. Unten am Pool richtet ein rotes T-Shirt die weißen Särge, die wie eine Armee um den Pool stehen, während das ewige Spiel der Wellen in meinem Kopf summt. Eine rote Lichterreihe tanzt im Meer und hinter der Reihe schaukeln bunte Boote, die wie Zuckerguss ihre kleinen Schatten in das Meer werfen. Der Physiotherapeut meinte, eine Krücke würde reichen, aber ich gehe immer noch an zwei. Will nicht loslassen, denn der Fuß heilt nicht, da mein Rücken ständig Schmerzbotschaften an mein Hirn sendet. Die Elektroden waren auch schon im Rücken und Wärmepflaster wurden von Wärmflaschen und Rückenwärmegürteln verdrängt. Hier gibt es kein warmes Wasser und mein Rücken ist in der Nacht schutzlos wie ein frisch geborenes Vögelchen ohne Federn. Nackt starrt er aus der Decke heraus in den nicht zu sehenden Sternenhimmel. Dann füllt sich mein Mund mit Metall und ich trinke und trinke Wasser hinein, um die Angst hinunter zu stürzen, die mich wie im Nebel Welle um Welle umher wirft gleich diesen auf dem Wasser tanzenden Booten. Der eigentliche Grund für das Gebrechen und die Angst passierte vor 30 Jahren in Bangkok. Wein hatte mich umspült in meiner Übernächtigkeit nach dem langen Flug. Ein Jetlag ließ meine Reaktionen auf einen Nullpunkt sinken und so bemerkte ich in dem starken Verkehr dieses brodeldenden Molochs nicht, dass ein BMW von 0 auf 100 beschleunigte, mich von der Seite her streifte, ich mit dem Kopf an die Leitplanke prallte und dann zurück auf den Rücken und damit auf den Hinterkopf mitten auf den Asphalt knallte. Gerade, wenn ich jetzt im Moment auf der Tastatur tippe ist es, als ob ich mit dem Rücken tippe, denn jeder Schlag auf der Tastatur wandert in den Rücken. Im Krankenhaus wurde ich mit dem Hinterkopf auf eine metallene harte Liege gepresst und ohne Betäubung wurde die riesige Wunde an der Stirn genäht, aber keiner der Ärzte hatte bemerkt, dass ich auch am Hinterkopf eine klaffende Wunde hatte. Während sie vorne nähten, pressten sie meine Wunde hinten in das Metall, das nicht nachgeben konnte. Ich erwachte zwei Tage später mit den zwei Wunden am Kopf, einer Gehirnerschütterung, einem Schleudertrauma und einem Kreuzbandriss im rechten Knie. Dieser Kreuzbandriss wurde mir erst im Alter von 30 Jahren zum Drama, denn er wurde erst 10 Jahre nach dem Unfall entdeckt. Deshalb ist heute mein rechtes Bein kürzer als das linke und ich gehe schief. Der linke Fuß ist gebrochen, da ich das rechte Knie nicht richtig belaste. Bald ist Sonnenuntergang und dann gehe ich an Krücken mit Blut im Mund und Hirn zur Bella Isola hinauf, um zu sehen, wie der Vulkanball im endlosen Meer zerbirst. Ja, dort wird es Champagner für mich regnen und jemand wird mir eine weiße Orchidee in den Schoß legen. Und morgen, ja morgen werde ich mich wieder auf einen der Särge legen und hoffen, dass die Schmerzen dann endlich vorbei sind.

AMOKKOMA
Mit ihren Texten bewegt sich Annette Haug alias Pola Polanski zwischen Fiktion und Traum, zwischen Realem und Surrealem. Es gelingt ihr, den Leser entlang einer Grenzlinie zu halten, ihn zu schockieren und zu berühren. Ihre Geschichten sind die des alltäglichen Lebens, dass jeder sich darin wiederfinden kann. Frau/Mann, schwul/lesbisch, Künstlerin/Angestellte, Liebeskranke/Partnerin, Mutter/Vater. Sie zeigt die Vielseitigkeit des Lebens, in der die Figuren die Krankheiten der Gesellschaft am eigenen Leib zu spüren bekommen.

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